Gräser, Büsche, ein paar Bäume: Die Panzerwiese am nördlichen Stadtrand erscheint auf den ersten Blick als Ödnis. Das RIVA NORD lädt zu einem zweiten und dritten Blick ein. Seine von Kindern und Profis geschnitzten Skulpturen regen zum achtsamen Umgang mit der Natur an und bieten überraschende Erkenntnisse.
Tobias Maier kniet sich auf den Boden, teilt mit der rechten Hand das hohe Gras, beugt sich vor, pirscht sich mit seiner linken Hand heran, dann hat er sie. Eine prächtige Heuschrecke sitzt auf seinem linken Zeigefinger. Die umstehenden zücken Handys und Kameras. „Ein Warzenbeißer“, sagt Maier. Genauer: Ein Warzenbeißer-Weibchen. Grasgrün, eine halbe Fingerlänge groß, lange Fühler, die gebogene Legeröhre zur Eiablage am Körperende. Diese Laubheuschrecke kann kräftig zubeißen, um andere Insekten zu fangen. Schmerzhafter sind jedoch die ätzenden Verdauungssäfte, die sie ausspuckt. Früher erhoffte man sich von ihnen Heilung bei Warzen, daher der Name Warzenbeißer. „Sieben Häutungen in einem Sommer und dann überwintert er als Ei“, erklärt Maier.
Die kleine Gruppe, die ihn umringt, steht auf einer Heide im Münchner Norden, die ungastlicher kaum heißen könnte: Panzerwiese. Klingt nach Krieg, nach plattgewalzter Fläche. Tatsächlich war hier bis 1989 ein Übungsplatz der US Army. Flach ist es, Gräser, so weit das Auge reicht, Büsche, ein paar Bäume. An einem Horizont die Allianz-Arena, am anderen die Hochhäuser des Hasenbergl. Nichts Besonderes. „Das täuscht“, protestiert Maier, „der Laie sieht gar nicht, wie wertvoll das hier ist!“ Er habe auf einer Kuhweide mal nachgezählt und sei auf neun Pflanzenarten gekommen. Übers Jahr, mit Früh- und Spätblühern, seien es vielleicht 20. „Aber hier sind es 178 Arten, die Bäume noch nicht mitgezählt. Das ist ein einzigartiges Biotop!“
Tatsächlich ist die Panzerwiese seit 20 Jahren Naturschutzgebiet und gehört zum Fauna-Flora-Habitat-Gebiet, Maier ist ihr Gebietsbetreuer. Er zeigt auf Gräser wie die Aufrechte Trespe oder auf das Zittergras mit den herzförmigen Fruchtständen. „Oder hier, der Blaue Natternkopf. Es gibt eine Wildbienen-Art, die sich nur vom Blauen Natternkopf ernährt!“ Ein braun-oranger Schmetterling flattert vorbei, „ein Großes Ochsenauge“, ruft Maier. „Das ist derzeit die häufigste Schmetterling-Art hier. Ein Generalist, der findet seine Nahrung im Wald ebenso wie auf der Wiese.“ Anders der schwarz-weiß gemusterte Schachbrettfalter, der kurz darauf geflogen kommt. „Der bevorzugt die Gräser der offenen Wiesenlandschaft.“
Es scheint, als warteten auf Schritt und Tritt Entdeckungen. „Seht ihr den Turmfalken im Rüttelflug oben?“ Ein Dutzend Augenpaare schweifen zum Himmel. „Im Winter sitzt er auf einem Ast und wartet, bis ihm was über den Weg läuft. Aber jetzt muss er jagen, er hat Junge, die wollen Eidechsen oder Mäuse.“ Maier bückt sich und hebt einen handtellergroßen Stein vom Boden, deutet auf die Flechten, die sich in seine Oberfläche geätzt haben, auf die Muster, an denen er erkennt: „Der Stein lag seit Jahrzehnten so da“.
Maier ist Biologe und heute auch Optiker: Er öffnet Augen für den Reichtum, den der Kalkmagerrasen hier hervorbringt. Genau das will auch das RIVA NORD an der Ingolstädter Straße: für diese schützenswerte Heidefläche sensibilisieren, die direkt vor der Tür des der Kinder- und Jugendraums beginnt. Deshalb hat es den „NaturImpulsPfad“ ins Leben gerufen, der hier an diesem Samstag im Juli eröffnet wird.
Der Pfad besteht aus bislang acht Holzskulpturen und einem Graffiti auf der alten Panzermauer. Jede Station greift eine Facette der Heidelandschaft auf. Beispielsweise Leben im Totholz, Metamorphose von Insekten, Geschichte der Panzerwiese oder die Müllproblematik. Für letztere steht ein überdimensionaler, zerdrückter Zigarettenstummel. Dazu gibt es keine langen Infotafeln, nur zwei bis drei Sätze geben einen Impuls zum jeweiligen Thema. QR-Codes an den Stationen führen zu vertiefenden Foto-, Text- und künftig auch Audiobeiträgen.
„Wir wollen über den sinnlich-ästhetischen Ansatz die Neugier wecken“, erklärt RIVA-Leiter Tom Droste das Ziel. Wer hier vorbeiradelt, spaziert oder mit dem Hund Gassi geht, soll kurz Innehalten und auf die Vielfalt dieses Naturschutzgebiets aufmerksam werden. Und auf die Gefahren für Pflanzen, Tiere und Menschen, die oft vermeidbar sind. Zum Beispiel, dass ein Zigarettenstummel mit seinem Giftstoff-Mix 40 bis 60 Liter Grundwasser verunreinigt und das Pflanzenwachstum negativ beeinflusst.
Holzbildhauerinnen und Holzbildhauer haben die Skulpturen gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen aus dem RIVA NORD geschaffen. „Das ist echt schwere Arbeit“, sagt Droste, „nach 15 Minuten tun einem die Arme weh!“ Er weiß, wovon er spricht, seit vielen Jahren bietet er bei Mini-München die Holzschnitzwerkstatt an, so auch diesen Sommer. Droste ist Initiator und Motor hinter dem „NaturImpulsPfad“. Er hat den örtlichen Bezirksausschuss (BA) überzeugt, mit mehr als 5.000 Euro die Hälfte der Kosten zu tragen. BA-Mitglied Roland Kerschhackl, der den NaturImpulsPfad mit eröffnet, nennt ihn ein „wunderbares Beispiel, wie das Stadtviertel-Budget eingesetzt werden kann.“ Die andere Hälfte finanziert der KJR, dessen Vorstandsmitglied Ruth Heeren ist überzeugt: „Der Pfad wird Menschen animieren, die Natur wertzuschätzen!“
Tobias Maier, der Gebietsbetreuer, ist natürlich nicht immer hier, auch wenn er gerne Schulklassen und andere Gruppen über die Panzerweise führt. Aber auch ohne seine fachkundige Begleitung gibt es auf den 200 Hektar Heidefläche viel zu erforschen. Dazu stehen im RIVA NORD mehrere Entdecker-Rucksäcke zur Ausleihe bereit, mit Becherlupen, Ferngläsern, Bestimmungsbüchern für Tiere und Pflanzen, Entdeckerheften und Rätselfragen sowie Anleitungen für Gruppenaktivitäten und Beobachtungen. So können kleine und große Entdeckerinnen und Entdecker mit ihren Familien, Kleingruppen oder auch Schulklassen die Heidelandschaft der Panzerwiese im Wortsinn unter die Lupe nehmen.
Mehr Informationen unter https://rivanord.de/naturimpulspfad
Gecko Wagner, Öffentlichkeitsarbeit, KJR