„Wir müssen jetzt plötzlich auch das Homeschooling übernehmen“, sagt Ruth Heeren. „Dabei knabbert der Bereich der voll- und teilstationären Jugendhilfe ohnehin sehr am Fachkräftemangel“, erklärt die Sozialarbeiterin. Acht Jungs zwischen 14 und 18 Jahren leben in der Wohngruppe nahe des Candidplatzes, die sie betreut. Alle geflüchtet, alle aus Afghanistan. Im Schichtdienst kümmert sich immer ein erfahrenes Team aus Pädagoginnen und Pädagogen des gemeinnützigen Vereins hpkj e.V. um die acht Heranwachsenden. Zur Zeit ein ausgedünntes Team.
Die Jugendlichen wecken, motivieren, anschieben, Lernzeiten einfordern, bei Hausaufgaben und Arztbesuchen unterstützen, Programm anbieten, mit ihnen rausgehen, dabei immer wieder anhalten, die gemeinsamen Regeln einzuhalten. Und dazu die ganze organisatorische Arbeit im Hintergrund: Heerens Job ist im Normalfall schon eine fordernde Aufgabe.
Doch seit Corona ist sie auch Ersatzlehrerin und noch mehr gefordert, schließlich sind die Jungs jetzt rund um die Uhr hier. Die Schule schickt den Schülern Arbeitsblätter, kontaktiert sie über E-Mail, WhatsApp und fast sämtliche Videokonferenz-Plattformen von Skype über Teams und Zoom. „Bei acht Jungs ist es sehr aufwendig, alle zu beschulen“, sagt Heeren, „alleine ist das eigentlich nicht zu machen.“
Doch zum Glück ist da Angie Kraft. Sonst arbeitet die Sozialpädagogin für den Kreisjugendring München-Stadt (KJR), dort kümmert sie sich im Laimer Jugendzentrum mit Abenteuerspielplatz unter anderem um Angebote der Offenen Ganztagsschule. Weil die derzeit aber auch wegfällt, unterstützt Kraft seit Mitte März die Wohngruppe am Candidplatz.
Das sei auch dringend notwendig, sagt sie. „Die Jungs bereiten sich gerade auf die Prüfung für Deutsch als Zweitsprache vor, bekommen aber die Hausaufgaben der Muttersprachler“, berichtet Kraft von einer der Schwierigkeiten. Einige seien sehr motiviert, andere demotiviert, weil sie die Aufgaben sprachlich nicht verstehen. So wie bei dem Text neulich aus PCB (Physik-Chemie-Biologie). Darin ging es um Photosynthese, Stickstoffdioxid und Katalysatoren. „Eigentlich“, sagt die Sozialpädagogin, „bräuchten die Jugendlichen eine Eins-zu-eins-Betreuung.“
Damit sie nicht zurückfallen, ist Kraft jetzt jeden Tag acht Stunden da, manchmal auch länger, motiviert, schiebt an. „Wenn sie nicht in die Schule müssen, schlafen sie halt viel länger, hängen mehr rum und am Smartphone“, sagt sie. Daher ist es mit das Wichtigste, den Jugendlichen Struktur zu geben. In den Ferien durften sie auch tagsüber fernsehen, das geht jetzt nicht mehr, „da gibt’s natürlich viele Diskussionen“.
Außerdem geht sie mit einigen der Jungs manchmal ins nahe gelegene Jugendzentrum am Wettersteinplatz FEZI. Das hat zwar für den Publikumsverkehr geschlossen, weil die Wohngruppe aber als „häusliche Gemeinschaft“ gilt, dürfen sich ihre Bewohner zusammen an Kicker, Billardtisch oder im Trampolin austoben.
„Angie ist ein Geschenk des Himmels!“, sagt Heeren, „wir sind dem KJR wahnsinnig dankbar für diese Entlastung!“ Dort gehört Heeren zwar dem Vorstand an, konnte aber bei den KJR-Beschäftigten auch nur für den Hilfseinsatz Werbung machen.
Kraft musste nicht lange überlegen, als der Aufruf des KJR an seine Beschäftigten kam. Sie wollte sich ohnehin engagieren und die Pflegekräfte im Krankenhaus oder die Landwirte bei der Spargelernte unterstützen. Aber der pädagogische Bereich hat dann perfekt gepasst. „Für mich ist es total cool, die Zeit zu nutzen, um in einen ganz anderen Bereich hineinzuschnuppern“, sagt die Pädagogin, die noch keinen Augenblick ihren Einsatz in der Wohngruppe bereut hat. Und die neuen Erfahrungen in einem anderen Arbeitsfeld helfen ihr auch, den Blick für ihre Arbeit im Laimer Jugendzentrum zu schärfen.
So wie sie arbeiten derzeit auch weitere KJR-Kolleginnen vorübergehend in stationären Wohnformen. Sarah Klasen zum Beispiel. Die Pädagogin aus der Lok Freimann ist derzeit hilfsweise bei dem gemeinnützigen freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe NEUE WEGE im Einsatz. Dort unterstützt sie im Spätdienst die pädagogischen Fachkräfte in einem Haus, das von sechs Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren und drei Alltagsmanagerinnen in drei Wohngemeinschaften bewohnt wird. „Bei der Arbeit geht es vor allem darum, den Jugendlichen eine Alltagsstruktur zu geben“, sagt Klasen. Jenseits von konkreten Angeboten und Regeln erlebt sie, wie wichtig diese Arbeit ist. „Der älteste zieht bald aus und löst sich gerade“, berichtet sie. „Es ist sehr spannend, was da so nebenbei passiert, auch in den Köpfen. Und es ist schön, dass er sagen kann: ‘Das hier war ein Stück Zuhause‘“.
Und die Angst vor Corona? „Der KJR hat mich klar darauf hingewiesen, dass ich damit mein Infektionsrisiko erhöhe!“, sagt die Sozialpädagogin. Auch gilt in der Wohngruppe keine Maskenpflicht. „Das ist das Zuhause der Jugendlichen und Zuhause muss niemand Masken tragen“.
Auch Kraft weiß, dass ihr Engagement Risiken birgt. „Ich kann mit den Jungs kein Buch lesen oder ein Aufgabenblatt bearbeiten und dabei anderthalb Meter Abstand halten“, sagt sie. „Aber ich bin ziemlich fit, habe ein gutes Immunsystem und wenn’s mich erwischt und eine Woche lang schlaucht, ist es halt so.“ Auch Klasen ängstigt das nicht. „Ich habe keine Kinder zu Hause, wohne alleine, gehöre zu keiner Risikogruppe, wer wenn nicht ich sollte das machen?“ Und auch für sie ist es eine willkommene Gelegenheit, ein anderes Arbeitsfeld kennen zu lernen. „Wenn ich für meine Zeit schon bezahlt werde, kann ich so was Nützliches tun!“
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BU-Vorschlag
Sozialarbeiterin Ruth Heeren (re.) bei der Arbeitsbesprechung mit Angie Kraft vom KJR, die seit Mitte April das Team verstärkt – zumindest, bis ihr eigentlicher Arbeitsplatz, das Laimer Jugendzentrum, wieder öffnet
Bei den Hausaufgaben unterstützen, hier bei Mathematik des Abschlussjahrgangs, das ist Alltag in der Wohngruppe. Doch seit der Schließung der Schulen kommt das Homeschooling dazu. Nicht nur dabei ist Angie Kraft eine wichtige Unterstützung